Tinnitus: Verlust der Stille
Definition
Tinnitus von tinniere (lat. klingeln, sausen,
brausen, pfeifen) meint die Wahrnehmung von Tonempfindungen, die in
den Ohren oder im Kopf lokalisiert werden, ohne dass gleichzeitig
eine externe Schallquelle vorliegen muss.
Dieser subjektive Tinnitus wird von
einer objektiven Form unterschieden, bei der z.B.
Strömungsveränderungen des Blutes, Gefäßverengung oder Störungen der
Herzklappen das Geräusch verursachen.
Symptome
Ohr- oder Kopfgeräusche quälen. Diese penetranten Geräusche können
verknüpft sein mit Hörproblemen und Geräuschempfindlichkeit, mit Ein- oder Durchschlafstörungen. Der Körper reagiert auch in anderen
Bereichen, zum Beispiel mit Magen-Darm-Störungen, Schulter-
Nackenverspannungen oder mit Kopfschmerzen. Diverse Ängste und
Gemütsstimmungen belasten. Die Lebensqualität in Beruf, Familie und
Freizeit wird erheblich beeinträchtigt.
Das Leiden am Tinnitus, die "Tinnitus-Krankheit“ wird überwiegend
durch die Begleit- und Folgestörungen wie Depression, Angst,
Schlafschwierigkeiten und psychosomatische Störungen verursacht. Nach klinisch- praktischen Gesichtspunkten erfolgt eine
Einteilung des Tinnitus in vier Schweregrade . Nur Grad III und IV
sind behandlungsbedürftig.
Der chronisch komplexe bzw.
dekompensierte Tinnitus kann zu erheblicher Beeinträchtigung der
Leistungsfähigkeit und der Lebensqualität führen.
Häufigkeit
Im deutschsprachigen Raum berichten 5-15 % der Gesamtbevölkerung
vom Vorliegen eines Tinnitus. Bei 0,5-1% hat sich eine
eigenständige Erkrankung entwickelt.
Verursachung
Die Ursache für den subjektiven Tinnitus ist komplex. Er tritt oft
nach Knalltrauma, Dauerlärmschäden, Hörsturz, Morbus Menière, Stress
oder Verlusterlebnissen auf. Nach neueren Erkenntnissen liegt bei
Tinnitus-Betroffenen eine gesteigerte Erregung der zentralen Hörbahn
vor. So wird verständlich, dass Tinnitus ohne äußere Einflüsse auch
"im Kopf" entstehen kann oder dass auch Halswirbelsäulen- und
Kiefergelenksstörungen über bestimmte Nervenverbindungen Tinnitus
auszulösen können.
Gemeinsam ist allen Tinnitusformen eine Informationsverarbeitungsstörung des akustischen Systems und
zentraler Hirnstrukturen.
Wie beim Schmerz und somatoformen
Störungen ist auch beim Tinnitus ein unspezifisches Disstress-Netzwerk aktiviert, das anteilig die psychischen Belastungen des
Tinnitus-Betroffenen erklärt.
"Tinnitus“ ist ein Sammeltopf
für unterschiedliche Subtypen/Unterformen. Diese haben
unterschiedliche Genesen und sprechen auf verschiedene Therapien an.
Diagnostik
Auch beim Tinnitus gehört vor die Therapie die Diagnostik . Es
gilt vielfältige organische Ursachen auszuschließen.
Die organmedizinische Diagnostik muss
zunächst durch einen HNO-Arzt erfolgen und auch diffizile apparativ-technische Untersuchungen beinhalten. Bei manchen
Tinnitus-Formen
sind auch weitergehende Maßnahmen, einschließlich eines MRT,
erforderlich.
Die psychosomatische Untersuchung besteht aus
einem psychologischen Erstgespräch, einem speziellen Tinnitus-Interview sowie
aus testpsychologischen Fragebögen, dies in Abhängigkeit
von den vorliegenden Störungen und Begleiterkrankungen.
Hier
betrachten Arzt und Patient sehr gründlich die Krankheitsentwicklung
und deren Einbettung in die Lebensgeschichte und erstellen dann eine
mehrdimensionale Diagnose.
Therapie
Danach wird ein
auf die persönliche Situation und die spezifische
Tinnitus-Störungsform zugeschnittenes Therapieprogramm mit den
Schwerpunkten psychosozialer und physiotherapeutischer Methoden
erarbeitet.
Es gibt nicht den Tinnitus und
den
Tinnitus-Patienten. Tinnitus stellt einen Oberbegriff mit
verschiedenen klinisch bzw. nach der Entstehungsart unterscheidbaren
Unterformen dar. Deshalb muss eine Behandlung immer individuell und
persönlichkeitszentriert erfolgen.
Tinnitus lässt sich nur
integrativ erfolgreich behandeln. Mit integrativ meinen wir, nicht
auf das einzelne Symptom orientiert, sondern den ganzen Menschen
innerhalb seiner oft gestörten Umweltbezüge betrachtend. Integrativ bedeutet aus unserer Sicht auch
Methodenkombinationen und interdisziplinäre Kooperation, d.h. die
Zusammenarbeit von Fachleuten unterschiedlicher Richtungen.
Beim chronisch komplexen Tinnitus sollten im Interesse des Patienten
zum Beispiel HNO-Arzt, Psychotherapeut, Hörgeräteakustiker,
Physiotherapeut/Osteopath miteinander kooperieren.
Die
integrative Komplextherapie besteht aus mehreren Säulen:
- Psychosomatik/Psychotherapie
- Hörgeräteakustik und weitere
apparativ-technische Maßnahmen
- Physiotherapie/Osteopathie
- Pharmakotherapie
In Abhängigkeit von der vorliegenden
Störungsform mit den Begleit- und Folgestörungen und der
individuellen Belastung kommt jeweils ein spezielles Repertoire zum
Einsatz.
Psychosomatik/Psychotherapie
Die wesentlichste und
effektivste Methode in der Tinnitus-Behandlung ist die kognitive
Verhaltenstherapie. Hier geht es vorrangig um das Bewusstmachen und
Verändern dysfunktionaler Muster im Denken, Fühlen und Verhalten.
⇒ Psychosomatisch/psychotherapeutische Methoden und
Therapieschritte:
- Informationsvermittlung über den komplexen Tinnitus,
einschließlich der Begleit- und Folgekrankheiten wie
Hörstörungen, Konzentrations- und Schlafprobleme, Stress, Angst,
Depression, Schmerz usw. mit dem Ziel der Versachlichung und
Entlastung
- Erarbeiten von
Bewältigungsstrategien zum besseren Umgang mit Tinnitus und den ihn
komplizierenden Problemen.
Bestandteile hierbei sind kognitive Methoden,
Entspannungsverfahren und achtsamkeitsbasierte Techniken
- Erschließen von Ressourcen
Wichtig wird es
sein, den Tinnitus zunächst zu akzeptieren und dann zu lernen, mit
dem chronischen Tinnitus angemessener umzugehen, um dann mit und
trotz Tinnitus eine neue Lebensqualität zu gewinnen.
⇒ Hörgeräteakustik:
Hörgeräte unterschiedlicher Spezifität
können die Belastung durch den Tinnitus reduzieren. Die
meisten Patienten leiden unter dem“ Verlust der Stille“. Deshalb
erleben manche Betroffene eine Geräuschstimulierung durch Tinnitus-Masker
(Noiser) als hilfreich. Analoge Erfolge lassen sich aber auch
durch andere Geräuschquellen, insbesondere mit Meeresrauschen,
erzielen.
⇒ Weitere apparativ-technische Zugänge
Die
nachfolgend aufgelisteten Verfahren befinden sich sämtlich im
Erprobungsstadium. Sie beinhalten offensichtlich potentielle
Möglichkeiten bei bestimmten Tinnitus-Formen. Von keiner dieser
Methoden konnte jedoch ein überzeugender Wirkbeweis erbracht werden.
- Bio-Feedback Techniken, insbesondere Neurobiofeedback
Transkranielle Magnetstimulation
Bei diesem Verfahren moduliert man mittels magnetischer Impulse oberflächliche Hirnregionen in ihrer Aktivität.
auditorische Stimulation
Hierbei wird Musik im Frequenzspektrum so verändert, dass die Hörstörung des Patienten kompensiert wird.
"Coordinated Reset Stimulation"
Bei dieser Methode verabfolgt man kurze Töne über oder unterhalb der individuellen
Tinnitus Frequenz .
-
Frequenz-Diskriminanz-Training
Beim Frequenz-Diskriminanztraining ermittelt man zunächst die individuelle
Tinnitus-Frequenz. Durch einen Trainingsprozess sollen dann die
benachbarten Bereiche verstärkt werden, um so die spezielle Tinnitus-Belastung zu vermindern.
⇒ Physiotherapie und Osteopathie
Die Physiotherapie kommt insbesondere bei Tinnitus-Auslösung oder
-Verstärkung durch Halswirbelsäulenbereich oder Kiefergelenk zum Einsatz. Die sanften Techniken der
Osteopathie, speziell in Form der kraniosakralen Therapie, können Dysbalancen ausgleichen und die Selbstregulation des Organismus anregen.
⇒ Pharmakotherapie
Die von Patienten und Behandelnden gewünschte "Tinnitus-Pille“ wurde noch nicht
entwickelt. Medikamentös lassen sich nur die Begleit- und Folgestörungen, die
Depressionen, Ängste oder Schlafprobleme behandeln.
Eine Tinnitus-Behandlung muss immer individuell und integrativ
erfolgen. So kann es gelingen, dass ein zunächst vom Tinnitus
geplagter und zwischenzeitlich verzweifelter Mensch wieder in
Frieden mit sich lebt, sich wieder freuen kann und das Leben
genießt.