
Burnout: Ein Werteproblem?
Vielfältige Prozesse, wie der noch immer nicht abgeschlossene und oft brisante Umbruch in den neuen Bundesländern, die sich ebenfalls wandelnden alten Bundesländer, Ost-West- und Ost-Ost-Probleme, Wirtschafts- und Finanzkrisen, Einigungsbemühungen auf europäischer Ebene und Veränderungen in globaler Dimension erschweren gegenwärtig die Identifikationsbildung und Identitätsfindung für den Einzelnen.
Wertewandel, Werteverfall, das Auflösen von Hierarchien und familiären Strukturen verunsichern. Sie wirken sich nicht zuletzt auf Gesundheit und Krankheit aus. Generell scheint es sich beim Ausbrennprozess um eine diffizile Werteproblematik zu handeln. Diese betrifft das Individuum, das die von seiner sozialen Gruppe vorgegebenen und gelebten Normen verinnerlicht hat und in größerem Maße das gesellschaftliche Wertesystem. In unserer "von außen geleiteten Kultur" unterwerfen sich viele Menschen Normen und Moden, die sie eigentlich innerlich ablehnen. Wer immer im Mainstream glaubt mitschwimmen zu müssen, überbeansprucht dadurch sein psychisches Leistungsvermögen. Auch die '... sich selbst widersprechende Anstrengung ...' (Wilhelm Bräutigam) verbraucht viel Energie.
Es um eine Diskrepanz im Dreieck "Wollen - Müssen - Können".
Dass diese Entwicklungen nicht allein für Deutschland charakteristisch sind, hat uns der französische Soziologe Alain Ehrenberg mit seinen Büchern "Das Unbehagen in der Gesellschaft" und "Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart" verdeutlicht.
Die Zunahme der psychischen Störungen mit exorbitantem Psychopharmaka-Gebrauch, Drogen- und Alkoholabhängigkeit in den westlichen Gesellschaften sind für Alain Ehrenberg "Reaktionen auf die allgegenwärtige Erwartung eigenverantwortlicher Selbstverwirklichung".
Über die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und Risiken hinaus lassen sich gewisse "Burnout-Risiko-Personen" finden, d.h. Menschen mit 'Überlebensmustern' (als persönlichkeitsspezifische Stressdispositionen) wie zum Beispiel:
- sich und anderen ständig etwas beweisen müssen
- immer 150 % bringen wollen
- bis zum Perfektionismus genaue Menschen, die sich und anderen keine Fehler erlauben
- Personen mit der "Sprachstörung, nicht Nein sagen zu können"
- Menschen, die aus ihren inneren Antrieben oder Lebensregeln kontinuierlich soziale Zuwendung durch Leistung erkaufen
Unter dem Rahmenthema 'Werte in Psychotherapie und Gesellschaft' hatten wir 1996 in Potsdam im Rahmen eines mehrtägigen Symposions die Werteproblematik, einschließlich der Werteveränderung in Gesellschaft und Psychotherapie und den Auswirkungen auf diese sehr gründlich betrachtet. John Erpenbecks Psychotherapieverfahren als Modelle von Wertewandel ist gleichsam als Kristallisationspunkt des Rahmenthemas anzusehen – mit Konsequenzen für die Therapie betroffener Menschen.
Für unser Anliegen, das Verständnis der Burnout-Dekompensation und die Therapie der Betroffenen erhielt ich aktuell Denkanstöße und Orientierungshilfen durch Professor Daniel Hell. Der langjährige Ordinarius für Psychiatrie der Universität Zürich referierte am 30. Oktober 2013 im Rahmen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Mittwochsgespräche an der Parkklinik Sophie Charlotte in Berlin zum Thema "Zum Scheitern in der Erfolgsgesellschaft – Aktive Resignation in der Psychotherapie".
Den Kern den Kern seiner Ausführungen bildete die Werteproblematik, unter anderem die Betrachtungen zur Erfolgs-und Leistungsgesellschaft und dem Scheitern in dieser, oft aufgrund nicht erfüllbarer innerer oder äußerer Zielvorgaben.
Das 'Scheitern' wird oft als persönliches Versagen erlebt und geht mit Scham und Schuldgefühlen einher. Nach Daniel Hell hat eine erfolgreiche Therapie nur Chancen, wenn das persönliche Wertesystem des Betroffenen nachhaltig verändert wird. Diese Überlegungen gelten generell für die Psychotherapie von Burnout-Betroffenen und dies nicht nur unter dem Aspekt der Schematherapie.
Die Werteprobleme und die Notwendigkeit, innere Maßstäbe zu verändern, gab es auch in anderen Gesellschaften. So hatte bereits Albert Schweitzer 1932 zum 100. Todestag von Johann Wolfgang von Goethe in seiner Gedenkrede wörtlich formuliert:
"Nur der versteht Goethe tatsächlich, der unter dem Zwang dieses seines tiefen und einfachen Humanitätsideals gerät und von dem Geiste der zum Leben tüchtig machenden Resignation berührt wird, aus dem er geboren ist…"